Traditionen und die Vision einer liberalen Bürgergesellschaft

Liberal denkende Menschen vertreten in Bezug auf die Vision einer liberalen Bürgergesellschaft häufig eine kritische, bisweilen sogar eine ablehnende Haltung gegenüber Traditionen, also gegenüber tradierten Werten, Normen oder – verwendet man diesen Begriff in dieser weiten Verwendung – gegenüber bestehenden \'Institutionen\'. Nun entspricht eine kritische Haltung gegenüber den überlieferten Handelns- und Denkmustern, also gegenüber der bestehenden sozialen Ordnung, natürlich grundsätzlich dem Anspruch von Menschen, die ein freiheitliches und selbstbestimmtes Lebensgefühl vertreten. Doch ebenso muß ein liberales Selbstverständnis die Kritik an einer solchen Kulturkritik erlauben. Dieses Recht soll mit diesem Artikel in Anspruch genommen werden. Denn gerade in den Ideen des Klassischen Liberalismus kommt der Tradition, also tradierten Werten, Normen und Verhaltensregeln, eine zentrale Bedeutung zu. Der hohe Stellenwert von \'Konventionen\' läßt sich dabei einerseits ideengeschichtlich und staatsphilosophisch, andererseits jedoch auch epistemologisch, also erkenntnistheoretisch aus der Funktionsweise des menschlichen Wahrnehmungsapparates heraus erklären. Diese beiden und miteinander zusammenhängenden Argumentationslinien sollen im folgenden grob skizziert werden.